Es ist eher ungewöhnlich, dass die Präsidentin der EU-Kommission Gerüchte über einen möglichen Gesetzesentwurf, der noch gar nicht veröffentlicht wurde, kommentiert.
Im Zuge der schmerzvollen Trennung zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich darf das aber nicht erstaunen.
Es geht um das Scheidungsabkommen, dass die EU mit UK ausgehandelt hatte, dessen Verabschiedung im britischen Parlament eine endlose Leidensgeschichte und einen tiefen Graben in der Politik offenbarte.
Seit Ende des letzten Jahr steht der Vertrag aber.
In diesem Jahr steht die Umsetzung dieses internationalen Vertrags zwischen UK und der europäischen Staatengruppe an.
Parallel zu den Verhandlungen über eine künftige Partnerschaft und ein Freihandelsabkommen arbeiten die EU und das Vereinigte Königreich bilateral daran, in gemischten Ausschüssen die korrekte Umsetzung des Scheidungsabkommens sicher zu stellen.
Das Problem: Die britische Regierung will nun ein Binnenmarktgesetz geltend für UK erlassen, das einzelne Punkte des Abkommens mit der EU betrifft und im Widerspruch zu darin enthaltenen Passagen stehen würde.
Darum die vorsorgliche Reaktion der EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen.
Aus Sicht der EU hat sich die britische Regierung in den letzten Jahren als wenig berechenbarer Verhandlungspartner herausgestellt.
Erst im x-ten Anlauf gelang es der britischen Regierung den Scheidungsvertrag im Parlament verabschieden zu lassen.
Fristen und Versprechen wurden nicht eingehalten. Ein störender Zeitdruck entstand.
Darum die vergleichsweise heftige Reaktion auf das Gerücht eines Gesetzesentwurfes.
Hintergrund ist ein Grundkonflikt.
Im Scheidungsabkommen ist ein Streitschlichtungs-Mechanismus festgehalten, der Schweizer Ohren bekannt vorkommen dürfte.
Sind sich die EU und UK nicht einig betreffend der Auslegung eine Bestimmung des Vertrages, dann beginnt ein dreistufiges Streitschlichtungsverfahren:
- im sog. Gemischten EU-UK-Ausschuss wird politisch eine Lösung gesucht für einen Kompromiss.
- lässt sich kein Kompromiss finden, dann wird ein Schiedsgericht eingesetzt.
- wenn nötig ruft das Schiedsgericht den Europäischen Gerichtshof an für Bereiche, die EU-Recht betreffen.
- das Schiedsgericht muss entsprechend entscheiden.
Dieser Streitschlichtungsweg wollte Boris Johnson eigentlich nie akzeptieren. Für das Scheidungsabkommen musste er aber einlenken.
Die gleiche Logik der Streitschlichtung soll nun auch für künftige Abkommen gelten, den Freihandelsvertrag oder sektorielle Abkommen zwischen der EU und UK.
Die britische Verhandlungsdelegation will davon nichts wissen.
Die EU besteht auf diesem Grundsatz, weil gemäss EU-Verträgen nur ein EU-Gericht abschliessend über EU-Recht urteilen kann.
Dieser Punkt ist ein wesentlicher Grund, warum ein Abkommen über die künftige Partnerschaft immer noch ausser Reichweite scheint.
Das britische Binnenmarktgesetz, das das Scheidungsabkommen tangiert, zeigt, wie UK künftige Abkommen rechtlich interpretieren will: Im Zweifelsfalle entscheiden wir ohne Rücksprache.
Das kann die EU nicht akzeptieren.
Darum die überraschend heftige Reaktion auf einen noch unveröffentlichten Gesetzesvorschlag.