EU-Corona Impf-Zertifikat: Zu hohe Erwartungen an den «Freipass für Ballermann»

Auf den ersten Blick besticht die Idee. Wer sich gegen das Covid-19-Virus impfen lässt, soll Ferien machen können, wo und wie das Herz begehrt.

Logisch sind die Erwartungen an das von der EU versprochene digitale, grüne Impfzertifikat hoch, besonders in Griechenland, Italien oder Spanien, wo die Tourismus-Branche ein bedeutender Pfeiler der nationalen Wirtschaft darstellt.

Reisende sollen in den Sommerferien in diesen Ländern für Umsatz sorgen, Jobs garantieren und wirtschaftlichen Aufschwung zurückbringen.

So weit so gut.

Wer aber etwas weiterdenkt, erkennt rasch, dass sich hinter dem Impfpass für freies Reisen und wiedergewonnene Lebensfreuden, ein komplexer Katalog von Grundsatzfragen eröffnet. Antworten fehlen weitgehend.

Die Einführung eines Zertifikates relativiert nämlich die freie Wahl, sich impfen zu lassen. Die EU-Kommission hat darum aus dem Corona-Impfpass ein neutrales Gesundheits-Zertifikat werden lassen. Es kann darin auch ‘nur’ festgehalten werden, dass die Trägerinnen einen negativen Corona-Test ausweisen können oder in Folge einer Erkrankung Corona-Antikörper in sich tragen.

Trotzdem schafft ein solches Zertifikat de facto zwei Klassen von Personen: Menschen, die keine Bedrohung mehr für die Gesellschaft darstellen und Menschen, die als potenzielle Super-Spreader gelten.

Es ist problematisch, wenn ein Zertifikat an Grundrechte gekoppelt wird, nämlich sich in Europa frei bewegen zu können. Es passt auch schlecht zum Versprechen, dass Impfen in Europa freiwillig sein soll.

Zumal wir ja noch auf lange Sicht nicht frei wählen können, ob wir uns impfen lassen wollen. Bis weit in den Sommer hinein werden Impfdosen ein rares Gut bleiben. Europas Impf-Kampagne kennt bisher vor allem grosse Verzögerungen.

Das Impfzertifikat diskriminiert zudem im besonderen Masse die jüngsten Generationen in Europa. Schulabgänger, Studentinnen und Lehrlinge werden die Letzten sein, die sich vor den Impfzentren in die Reihe stellen dürfen, während Pensionierte im Camper frei durch Europa reisen dürfen. Das ist falsch verstandene Solidarität.

Und dann stellt sich die Frage, ob denn Impfungen mit chinesischen oder russischen Impfdosen, die in Europa gar nicht zugelassen sind, von griechische oder spanischen Zollangestellten bei der Einreise anerkannt würden. Dann wären nämlich EU-Bürger aus Ungarn oder Tschechien nur zweite Klasse. Kompliziert.

Oder, können Reisende aus Grossbritannien, die nur einmal mit dem Impfstoff AstraZeneca geimpft wurden, der in der Schweiz noch gar nicht zugelassen ist, via Frankreich, Belgien und Deutschland mit dem Auto in die Schweiz einreisen?

Das zu bestimmen, zu kontrollieren und durchzusetzen, sollte nicht ohne eine Debatte in hierfür demokratisch legitimierten Parlamenten erfolgen. Notrecht hat hier keinen Platz.

Das gut gemeinte digitale, grüne Zertifikat erhält erst dann seine Berechtigung, wenn gesellschaftspolitisch heikle Fragen geklärt sind. Das braucht etwas Zeit. Demokratie darf kompliziert sein.

Reise-Privilegien verbunden mit einem EU-weiten Zertifikat kann es erst dann geben, wenn dem entsprechend Chancengleichheit garantiert ist. Wer glaubt, das sei im Juni der Fall, tut gut daran auf die vergangenen vier Wochen zurückzublicken. Sie waren voller planerischen Unsicherheiten.

Je später das Zertifikat aber kommt, je mehr Menschen sich impfen lassen, je mehr Zertifikate ausgestellt sind, desto überflüssiger wird das Zertifikat. Paradox.

Darum sollten wir vom Corona-Impfpass, der nur noch ein unverbindliches Gesundheits-Zertifikat sein darf, nicht allzu viel erwarten.

Schon gar nicht, dass er Sommerferien bei Ballermann auf Mallorca garantiert.

Ein Kommentar

  1. Ein erstaunlich einseitiger Kommentar. Eine ganz andere Position, dass nämlich mit dem Impfpass wegen Corona sistierte Freiheitsrechte wieder in Kraft gesetzt werden können, verschweigen Sie gänzlich.

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