Eupen, Ostbelgien

Einmal Kollaborateur und heute Musterschülerin: Die deutschsprachige Gemeinschaft in Ostbelgien

Deutsch ist eine offizielle Amtssprache in Belgien. Das ist weitgehend unbekannt. Es ist
ein Kuriosum der Geschichte und typisch für Belgien.

Die deutschsprachige Gemeinschaft
hat sich im Osten von Belgien nur widerwillig eingenistet. Das einmal zentralistisch
organisierte Königreich wird immer mehr ein föderaler Staat.

Politisch profitiert davon Ostbelgien überdurchschnittlich.

SRF, Sendnung International vom 28. August 2021

Ostbelgien ist klein und unbedeutend. Zu diesem Schluss kommt, wer nur auf die
Bevölkerung von rund 80’000 Menschen schaut. Das ist nicht einmal 1% der
Gesamtbevölkerung von Belgien.

Politisch hat die deutschsprachige Gemeinschaft im
Dreiländereck von Belgien, Deutschland und Luxembourg mehr Gewicht.

Anna Stuer ist die weltweit einzige Sekretärin einer ständigen Bürgerversammlung.
Einmalig ist dies, weil das Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft das bisher
erste und einzige Parlament der Welt ist, das sich per Gesetz eine beratenden
Bürgerversammlung an die Seite gestellt hat.

Maximal 50 Bürgerinnen und Bürger, per Los ausgewählt, bilden diesen. Ihre Aufgabe ist
es, das Parlament in bestimmten Sachfragen zu beraten. Die Empfehlungen muss das
Parlament in seiner Arbeit berücksichtigen.

In dieser Form gibt einen solchen regelmässigen Dialog zwischen Bürgerinnen und
Parlamentariern nur einmal auf der Welt, in Ostbelgien.

Das Europäische Parlament liess sich davon inspirieren. Der laufende Reformdebatte, die
Konferenz zur Zukunft von Europa, bezieht ebenfalls per Los zusammengestellte
Bürgerversammlungen in die Debatten mit ein.

Oswald Schröder hat einen der schönsten Arbeitsplätze in Ostbelgien. Der Chefredaktor
der Zeitung Grenz Echo arbeitet im Zentrum der Kleinstadt Eupen.
Das Grenz Echo ist die einzige deutschsprachige Tageszeitung von Belgien. Sie wurde in
den 20er Jahren gegründet, um ein Gegengewicht zu schaffen zu andern Zeitungen, die
als zu deutschfreundlich galten.

Die deutschsprachigen Gebiete stiessen erst nach dem Ersten Weltkrieg zum Königreich.
Eine Mehrheit der Bevölkerung wünschte sich damals die rasche Heimkehr ins Reich.
Nicht wenige Menschen schwenkten Hakenkreuz-Fahnen als Hitlers Truppen 1940 Belgien
eroberten.

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war entsprechend kompliziert. Weite Teile der
Bevölkerung standen aber unter General-Verdacht Kollaborateure gewesen zu sein. Sie
waren Gefangene der eigenen Geschichte.

Wegen des Sprachenstreits zwischen dem nördlichen Flandern und dem frankophonen
Wallonien in Süden fand Ostbelgien dann doch noch einen Weg, die deutsche Sprache
mit Belgien zu versöhnen.

Belgien wurde Schritt für Schritt von einem Zentralstaat in eine föderalen Bundesstaat
umgebaut. Jedes Mal profitierte die deutschsprachige Gemeinschaft von mehr
politischen Kompetenzen.

Heute reist der Ministerpräsident von 78’144 Menschen, Oliver Paasch, wöchentlich nach
Bruxelles, um sich mit den Amtsträgerinnen der Hauptstadtregion, von Flandern und
Wallonien abzusprechen.

Taktisch geschickt hat die kleine deutsche Gemeinschaft ihren Platz im belgischen Staat gefunden. Die Region mag geografisch am äussersten Rand liegen. In zentralen
politischen Debatten ist Ostbelgien jedoch mitten drin.

Bei der nächsten Verfassungsrevision will Ostbelgien endlich ein eigenständiger
Gliedstaat werden. Anders als Flandern hegt in Ostbelgien niemand separatistische
Gefühle.