Rechtsstaat in Polen: Das Europa der polnischen Regierung gibt es nicht

Der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki rechtfertigte sich vor dem Europäischen Parlament zum Entscheid des Verfassungsgerichtes seines Lands, Teile des EU-Rechts und Urteile des Europäischen Gerichtshofs seien nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar.

In seiner fahrigen Rechtfertigung machte der Premierminister von Polen deutlich, welches Europa sich seine Regierung wünscht: Eine Europäische Union “à la carte”, in der sich jedes Mitglied seine EU nach eigenem Gusto zusammenstellt. Dieses Europa gibt es aber nicht.

Quelle: Schweizer Radio SRF, Sendung Rendez vous vom 19. Oktober 2021

Die Rede des polnischen Regierungschef Mateusz Morawiecki vor dem Europäischen Parlament war alles andere als überzeugend. Die Form stimmte nicht. Der Inhalt fehlte.

Wer fünf Minuten Redezeit erhält, aber mehr als dreissig Minuten eintönig spricht, lässt den Respekt vor demokratisch gewählten Volksvertretern vermissen. Im EU-Parlament überraschte das nicht. Die Bemerkung des Vorsitzenden war daher treffend, dass dieser Formfehler eine klare Aussage sei, nämlich Ausdruck von Respektlosigkeit.

Doch die Form ist letztlich zweitranging. Leider konnte aber auch der Inhalt der Rede Mateusz Morawieckis nicht überzeugen. Zur Erinnerung. Es war der polnische Regierungschef, der darum gebeten hatte, sich vor dem EU-Parlament zu erklären.

Das Thema war gesetzt. Es ging nicht um Polen, sondern zur Diskussion stand der polnische Rechtsstaat, der in Gefahr ist. Morawiecki sprach nicht zu diesem Thema. Er zählte ausufernd alle Krisen auf, die er auf die Europäische Union zukommen sieht: die Energiekrise, die Migrationskrise, die Klimakrise.

Von der Gefahr, dass mehrere EU-Mitglieder, auch Polen, sich nicht mehr an zentrale Grundwerte der EU gebunden fühlen, war nicht die Rede.

Der polnische Ministerpräsident warf der EU vor, ständig ihre Kompetenzen zu überschreiten. Der Europäische Gerichtshof habe nur ein Ziel, seine Macht auszuweiten. Dagegen müsse sich Polen zur Wehr setzen, um die polnische Verfassung zu schützen.

Der langen Rede einziger Sinn war es, darzulegen, welche Europäische Union sich die polnische Regierung eigentlich wünschte: Einen losen Bund von Staaten, die sich auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner organisieren. Der kleinste gemeinsame Nenner ist der gemeinsame europäische Binnenmarkt. Das ist Europa ‘à la carte’.

Dieses Gegenprojekt zu Europäischen Union hatten einmal zahlreiche europäische Staaten favorisiert. Grossbritannien gehörte dazu und auch die Schweiz. Seither sind 60 Jahre verstrichen. Die EU hat eine andere Richtung eingeschlagen. Sie ist heute weder ein Staatenbund noch ein Bundesstaat, sondern ein politisches Gebilde eigener Prägung.

Dieses Gebildes hält einigermassen zusammen, weil sich alle Mitglieder verpflichten, gemeinsam vereinbarte Regeln zu respektieren und interne Konflikte nach denselben Regeln zu lösen.

Die polnische Regierung hat in den letzten Jahren offenbart, dass sie diesen Konsens nicht mehr mittragen will.

Der Wunsch nach einem ‘Europa à la carte’ ist legitim.

Mateusz Morawiecki hätte heute erklären können, wie er sein Ziel erreichen will. Es zeigte sich aber, dass die polnische Regierung keinen Plan hat. Nun müssen die Bürgerinnen und Bürger Polens wählen, wie sich ihr Land politisch ausrichten soll.

Bis da, tut die EU-Kommission gut daran, an Polen kein Geld aus dem Corona-Wiederaufbau-Fonds zu überweisen.

Es fehlt die Garantie, dass dieses rechtmässig eingesetzt wird.