Das Foyer ist das älteste Jugendzentrum von Molenbeek.

Molenbeek will nicht mehr ein Nest von Terroristen sein

Einige der Extremisten der Terror-Anschläge von Paris und Brüssel stammten aus Molenbeek. Trotzdem sei Molenbeek nichts Besonderes, behauptet ein Jugendarbeiter. Es sind Aussenstehende, die Molenbeek ein Stigma anheften. Wie lebt es sich in dieser Gemeinde voller Vorurteile?

SRF, Sendung International vom 25. Februar 2023

Vor der Tür steht ein aufgemotzter Porsche, auf dem Tisch liegt ein goldfarbener Revolver, hinter Hamid El Abouti stapeln sich Berge von Prozessakten. Der Milieu-Anwalt aus Molenbeek erlebt fast täglich die Schmach, in Molenbeek aufgewachsen zu sein.

„Wenn ich meine Klienten in einem Gefängnis ausserhalb Brüssel besuchen, dann kontrollieren die Wärter fünfzigmal mein Anwaltspatent.“

Als hätte er seine Ausbildung in Casablanca absolviert…

„Das ist doch eigentlich unglaublich“, sagt El Abouti und schüttelt den Kopf.

Sein Vater, von Industriebetrieben als billige Arbeitskraft aus Marokko nach Molenbeek gerufen, lernte weder Schreiben noch Lesen. Trotzdem sorgte er dafür, dass sein Sohn nicht aus der Bahn fällt. El Abouti studierte Recht an der Freien Universität von Brüssel. Es kommt trotzdem immer noch vor, dass ihn Kolleginnen und Kollegen am Strafgericht scheinheilig fragen, wo er denn studiert habe.

Mohamed el Ghalbzouri kennt das bestens. Er studierte Soziologie und schloss sein Studium mit einer Feldforschung in seiner Heimatgemeinde ab.

Er wollte unter anderem wissen, ob seine Nachbarn die gleichen vorwurfsvollen Blicken in der Metro erleben und wie sie darauf reagieren. Das prägte den jungen Forscher nach den Terroranschlägen im Jahr 2016. Auch er fühlte sich an den Pranger gestellt, mit Terroristen gleichgestellt.

Sich als Ausländer zu fühlen sei das Eine. „Noch schlimmer ist es, mit Terroristen gleichgesetzt zu werden.“

Die Ergebnisse seiner Studie müssten die Brüsseler Behörden eigentlich alarmieren. Viele Junge ziehen sich nämlich zurück, treffen sich nur noch mit Gleichgesinnten aus Molenbeek, haben Respekt in ihrer Freizeit Molenbeek zu verlassen.

„Die Jungen suchen Sicherheit. Ihr vertrautes Umfeld gibt ihnen diese Sicherheit“, so el Ghalbzouri.

„Die Stigmatisierung von Molenbeek hat eine lange Tradition.“

Mohamed el Ghalbzouri

Molenbeek wird auch das Manchester von Belgien genannt. Auch das ist zweideutig.

Es ist ein Anspielung an die fielen roten Backsteinfassaden, aber eben auch an den wirtschaftlichen Abstieg nachdem viele Industriebetriebe ihre Werktore schliessen mussten.
Armut ist heute in Molenbeek weit verbreitet.

Wenn der Wohlstands-Index für Belgien bei 100 angesetzt wird als Referenz, dann liegt Brüssel im Vergleich bei 80 und Molenbeek bei weniger als 60.

Das Stigma, arm zu sein, haftet allen Einwohnerinnen und Einwohnern an.

Fatima Zibou, eine der Direktorinnen der Bewerbung Brüssels als Kultur-Hauptstadt Europas im Jahr 2030, selber in Molenbeek aufgewachsen, glaubt, dass diese Vorurteile die Entwicklung von Molenbeek hemme. Aber sie erkennt auch eine Gegenbewegung.

„Wie in vielen Gemeinden, über die ein Sturm der Entrüstung hereinbricht, wollen auch in Molenbeek viele Menschen ein anderes Bild vermitteln und schliessen sich zusammen.“

Ein gutes Beispiel ist hierfür das “Maison des Béguines” in einem Wohnquartier von Molenbeek. Das Quartierzentrum hat einen spektakulären Wandel geschafft. Vorher war es nämlich das “Café des Béguines”. Bis zu den Terroranschlägen gehörte das Café den Brüdern Abdeslam, den Terroristen; Brahim Abdeslam sprengte sich in Paris beim Bataclan in die Luft – riss Hunderte mit sich in den Tod. Salah Abdeslam, der jüngere Bruder, muss sich in diesen Monaten in Brüssel vor Gericht verantworten als überlebender Attentäter.

Nun lebt das Maison des Béguines aber auf. Ein Kollektiv von Freiwilligen organisiert Aufgabenhilfen für Kinder, Velofahrkurse für Mütter, Sprachkurse für alle, Diskussionsveranstaltungen, Lesungen. Das Lokal ist manchmal Velo-Werkstatt, dann wieder Malatelier.

Sara wohnt seit einigen Jahren hier im Quartier. Die Ärztin und Mutter will hier alt werden.

„Es ziehen viele Leute hierher und andere wieder weg. Das macht es manchmal etwas schwer, etwas aufzubauen. Ich mag das aber sehr. Molenbeek bleibt in Bewegung.“

Von Berufes wegen bleibt auch Hibo Ahmed immer in Bewegung. Sie trägt die Kapitänsbinde des RWD Molenbeek Girls und ist als Social-Coach im Club angestellt.

Die Sportlerin betreut junge Spielerinnen während ihrer Laufbahn. Hibo Ahmed beobachtet bei vielen Spielerinnen eine persönliche Entwicklung, die ausserhalb des Fussballclubs kaum möglich wäre.

„Hier erhalten junge Frauen eine Aufmerksamkeit, welche sie sonst selten erhalten. Mir hat das sehr geholfen, meinen Platz auf dem Rasen, neben dem Spielfeld und im Leben als Frau zu finden.“

In Auswärtsspielen treten die Spielerinnen freilich immer noch gegen Vorurteile an. Die Gäste sind nicht selten überrascht über so viel Fairplay auf der Gegenseite.

„Das macht uns etwas stolz. Weil uns das zeigt, dass wir Botschafterinnen eines anderen Bildes von Molenbeek sein können.“

Auf dem Kunstrasen setzt Hibo Ahmed den linken Fuss neben den Ball und schlägt ihn mit ihrem rechten Fuss in einem weiten Bogen gezielt ins Tor.

Alltag in Molenbeek.

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Israel – Wer stoppt den Krieg? International

Der Krieg im Nahen Osten dauert seit mehr als einem Jahr, Zehntausende sind getötet, Millionen vertrieben worden, im Gazastreifen, im Westjordanland, in Libanon. Israel will den «totalen Sieg» über islamistische Terrorgruppen, um jeden Preis. Wer gegen diesen Krieg ist, hat es schwer. Jede Woche demonstrieren in Israel Tausende: für die Freilassung der Geiseln, welche die extremistische Hamas vor mehr als einem Jahr in den Gazastreifen verschleppte, gegen die Regierung, welche die Geiseln in ihren Augen im Stich lässt. Anti-Kriegsdemonstrationen sind das jedoch nicht. Der eigene Schmerz blendet das Leiden der Zivilbevölkerung im Gazastreifen und in Libanon fast komplett aus. «Wir klammern uns an die Hoffnung, dass die Geiseln zurückkehren können. Erst danach können wir hoffen, dass aus den Trümmern etwas Besseres entsteht. Aber zuerst müssen die Geiseln zurückkommen», sagt die 30-jährige Adi, eine ehemalige Späherin der israelischen Armee. Die sogenannten «Tatzpitaniyot», die jungen Soldatinnen, die auf ihren Beobachtungsposten vergeblich vor einem Hamas-Angriff gewarnt hatten, waren unter den ersten Opfern der Hamas. Mai Albini Peri, 29, ist der Enkel des von der Hamas entführten und getöteten Friedensaktivisten Chaim Peri. Der grausame Tod seines Grossvaters hindert ihn nicht daran, gegen den Krieg seiner Regierung zu kämpfen. Im Gegenteil: sein Grossvater habe immer gesagt, Israels Besatzung des palästinensischen Volkes führe ins Verderben. «Wir können im Gazastreifen nicht so weitermachen wie im vergangenen Jahr und behaupten: «Wir verteidigen uns nur!». Hättet ihr uns am 7. Oktober verteidigt! Dann wäre mein Grossvater noch am Leben. Was wir jetzt machen, hat mit Verteidigung nichts zu tun: das ist nur Rache», sagt der jüdische Israeli. Es gibt in Israel und den palästinensischen Gebieten Menschen, welche diesen Krieg dringend stoppen wollen. Aber wie? «Dieser Krieg ist nicht wie andere Kriege. Wenn sie ihn nicht beenden, nehmen wir die Auslöschung eines anderen Volkes in Kauf. Einfach beenden können wir den Krieg aber nicht: dafür braucht es eine politische Vision», sagt Rula Hardal. Sie ist eine der beiden israelischen Frauen, welche die gemeinsame israelische und palästinensische Organisation «A land for all» leitet, die sich für eine Zweistaatenlösung einsetzt. Wer stoppt den Krieg und wie? Eine Reportage aus Israel und dem Westjordanland.
  1. Israel – Wer stoppt den Krieg?
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