Ton Harmes steht in der wahrscheinlich schönsten Buchhandlung von Europa. Sie hat sich in Maastricht in einer stillgelegten Dominikaner-Kirche eingerichtet.
Im Grunde habe sie aber eigentlich immer noch ihre ursprüngliche Funktion. Sie sei ein Begegnungszentrum, meint der Direktor der «Boekhandel Dominicanen» . Hier treffen Menschen, die einkaufen, auf Ideen und Geschichten auf Papier.
«All unsere Bücher hier sind das Produkt von Europa, von europäischer Zusammenarbeit. Wir Menschen entwickeln Ideen nicht allein, sondern weil wir auf Reisen andere Menschen treffen.»
Für den Niederländer Ton Harmes ist Europa, neben Reisen und viel kulturellem Erbe, natürlich aber vor allem die Summe von vielen alltäglich gewordenen Erleichterungen. Dabei denkt er in erster Linie an seine Kasse.
«Es geht nicht mehr ohne Europa. Denken Sie an die Zeit vor dem Euro: Wir mussten alle Währungen in der Kasse haben; die D-Mark, niederländische Gulden, Franc, Pfund…»
Kein Zufall, dass Ton Harmes so schnell auf den Euro zu sprechen kommt. In Maastricht wurde 1992 der Maastricht Vertrag unterzeichnet und damit die Europäische Union geschaffen. Wer heute von der EU spricht, meint jenes Europa, das in seinen Grundzügen von den EU-Staats- und Regierungschefinnen. Hier wurde auch die gemeinsame Währung Euro beschlossen.
Damit bekam Europa ein Gesicht. Maastricht steht für den freien Personenverkehr, für die Unionsbürgerschaft und für ein enormes Fitness-Programm, um den europäischen Binnenmarkt zu verbessern. Europa wurde für seine Bürgerinnen und Bürger greifbar und angreifbar.
Hierfür stehe symbolisch der Name Maastricht, sagt der Historiker Bart Stol.
«Erst nach und nach werden wir uns bewusst, welche Bedeutung der Maastricht-Vertrag auf unser tägliches Leben hat.»
Immer noch.
Ohne Maastricht kein Brexit
Maastricht sei aber auch der Geburtsort der weitverbreiteten «Euroskepsis», meint Bart Stol, offizieller Archivar des Maastrichter Vertrags.
«Mit dem Vertrag von Maastricht rückt Europa zusammen. Das weckt viel Skepsis gegenüber Europa.»
In Maastricht sei auch der Grundstein für den «Brexit» gelegt. Dieses Mehr an europäischer Zusammenarbeit wurde der konservativen britischen Regierung zu viel.
Solche Begegnungen mit Menschen, die ihre Sicht auf Europa erzählen, eröffnet die EuroVelo 19, Die Maas-Veloroute in grosser Zahl. Sie führt von der Mündung der Maas im Zentrum von Frankreich durch die Ardennen, durch die Wallonie und Flandern in Belgien und dann durch die Niederlande bis an den Ärmelkanal.
Jeden Sonntag sitzt Michael auf seinem Klappstuhl an der Maas. Er fischt aus Leidenschaft. Fängt am liebsten Flussbarben. Er wirft sie alle zurück ins Wasser. Normalerweise. Bis hat er aber noch nichts gefangen. Michael ist einer dieser Euroskeptiker.
«Europa ist ein Chaos», meint er. Michael glaubt, eine Gegenbewegung in Europa zu erkennen. Endlich. Regierungen würden sich wieder stärker für ihre nationalen Interessen starkmachen.
«Überall nimmt der Nationalismus wieder zu. Weil viele europäischen Regierungen sich in der Vergangenheit um alles und jeden kümmerten, ausser um das Wohl ihrer eigenen Bevölkerung.»
Was Michael beobachtet, könnte sich bei den Europawahlen bestätigen. Europa-kritischen Parteien werden Gewinne vorausgesagt.
Michael holt aus und wirft seinen Haken in den Flusslauf.
Naives Europa
Jacques, pensionierter Feuerwehrmann aus Paris, besucht seine Eltern in der Region. Er liebt die gewaltige Natur entlang des Flusses. Er findet, dass die EU in den letzten Jahren einen guten Job gemacht habe. Insbesondere beim Klimaschutz. Er findet auch, dass Europa noch stärker ein Block werden müssen, um gegenüber den grossen Machtblöcken USA oder China nicht aufgerieben zu werden.
Aber er hält die EU zuweilen für etwas zu gutgläubig. Auch beim Klimaschutz.
«Die anderen Grossmächte foutieren sich um den Umweltschutz. Wir in Europa glauben, es besser als alle anderen machen zu müssen. Ich bin nicht sicher, ob diese Rechnung dereinst aufgeht.»
Die Bienenzüchterin und Gastwirtin Lydia widerspricht. Sie offeriert in ihrer Taverne neben dem europäischen Biermuseum ein lokal gebrauchtes Bio-Bier.
«Dieser Planet ist das Wichtigste, was die Menschheit hat. Nicht eine, alle Parteien, alle Menschen müssen sich für den Klimaschutz engagieren.»
Lydia wählt pro-europäische Parteien und Frauen, weil Frauen ja noch gar nicht so lange wählen könnten, meint sie mit einem Augenzwinkern. Weitere Mitglieder sollte die EU aufnehmen. Um den Frieden zu sichern, um den Handel zu fördern, für mehr Kooperation. Ein Gewinn für alle, meint Lydia.
«Natürlich nehme ich an den Europawahlen teil. Ich wähle pro-europäisch. Es braucht mehr Offenheit.»
Friedensprojekt Europa
Auch der Direktor des Weltfriedenszentrums in Verdun hält die europäische Integration für wichtig. Gewissermassen von Amtes wegen. Sein Zentrum wurde vom französischen Präsidenten und dem deutschen Bundeskanzler initiiert. Als Zeichen der Versöhnung. In Verdun gaben sich Helmut Kohl und François Mitterand die Hand an einer der Gedenkfeiern zum Ende des Ersten Weltkrieges.
Im Garten des «Zentrums für den Frieden in der Welt, der Freiheiten und Menschenrechte» können Besucherinnen eine Freundschaftsglocke anklingen lassen. Direktor Philippe Hansch hat Europa diese zentrale Aufgabe: Menschen vor Krieg zu schützen
«Es ist wichtig, dass wir Menschen uns für den Frieden interessieren. Wir nörgeln den ganzen Tag, was alles falsch läuft in Europa. Dabei vergessen wir, dass Europa den Frieden sichert.»
In und rund um Verdun wird aber vor allem der Krieg ausgestellt. Überall stehen Wegweiser zu Gedenkstätten an die beiden Weltkriege. In Verdun starben Hunderttausende Soldaten im Granatenhagel.
Joël Nogier vom Tourismuszentrum hat keine Mühe mit diesem Image von Verdun. Es sei eben wichtig, sich an den Krieg zu erinnern, damit sich die Geschichte nicht wiederhole.
Aktuelle reisen viele Schulklassen nach Verdun. Das hängt auch mit dem Krieg in der Ukraine zusammen. Wer im Internet nach «Verdun» sucht, erhält auch Suchergebnisse, die auf Massaker der russischen Armee in der Ukraine hinweisen.
«Bachmut in der Ukraine und andere Orte von Massakern der russischen Armee in der Ukraine werden am häufigsten genannt im Zusammenhang mit Verdun.»
Aurore hat viele Gedenkstätten besucht, als Schülerin. Sie wuchs in der Region rund um Verdun auf.
«Wir dürfen nie vergessen, dass der Krieg zurückkommen kann. Wir sehen das in anderen Ländern.»
Die Fahrrad-Route EuroVelo 19 beginnt bei der Quelle der Maas und endet bei der Mündung am Ärmelkanal. Sie führt mitten durch Europa.
Am Wegrand zwischen Verdun und Maastricht stehen vor den Europawahlen grosse Erwartungen an Europa, aber auch enttäuschte Hoffnungen.