Mit einem Videoclip im Internet gedenkt der Verein Life4Brussels, in dem sich Opfer und Angehörige zusammengeschlossen haben, den Anschlägen vor fünf Jahren in Bruxelles.
Wegen der Corona-Pandemie müssen die Zeremonien schon das zweite Jahr in Folge unter besonderen Bedingungen stattfinden.
7 Uhr 58, Abflughalle Flughafen Zaventem, Bruxelles. Das Königspaar und der Premierminister gedenken mit einer Schweige-Minute der Opfer.
9 Uhr 11 das gleiche Bild in der Metro-Station Maelbeek in unmittelbarer Nähe der Europäischen Institutionen, wo fast zeitgleich der zweite Anschlag verübt wurde.
Sich zu erinnern tue gut, meint Etienne Vermeiren, Trauma-Spezialist am Uni-Spital Saint-Luc in Brüssel.
Vielleicht ist nun aber langsam an der Zeit, die grossen Gedenk-Feiern ausklingen zu lassen. Einige, wenige Worte, vielleicht; nicht mehr; um bei den Opfern nicht ewig all das Leiden in Erinnerung zu rufen.
Etienne Vermeiren, Trauma-Spezialist Bruxelles
Der Psychologe Etienne Vermeiren begann am 22. März 2016 einen normalen Dienst auf der Notfallstation seiner Klinik.
Saint-Luc ist das grösste Spital von Brüssel und liegt nicht weit vom internationalen Flughafen von Brüssel.
Vermeiren betreute die ersten Opfer, die kurze Zeit nach Dienstantritt ins Spital gebracht wurden. Es ging einfach darum, einen ersten Kontakt zu den Patienten herzustellen, sagt er heute zuzuhören, mehr nicht.
Entscheidend für die spätere Behandlung ihrer Traumata, wie Vermeiren heute weiss.
Viel Opfer leiden mehr darunter, dass ihr Leiden nicht anerkannt wird, als dass sie Opfer eines Terroranschlages wurden.
Etienne Vermeiren, Trauma-Spezialist Universitätsspital Saint-Luc, Bruxelles
Viele der Opfer, die Etienne Vermeiren fünf Jahre nach den Anschlägen immer noch betreut, sind auf den offiziellen Opferstatistiken gar nicht aufgeführt.
Viele Trauma Patientinnen kamen erst nach ein oder zwei Jahren zu uns.
Nicht zufällig nach Gedenk-Feiern; diese liessen all diese Ängste wieder aufflammen, vor denen sie zu fliehen versuchten.
Das seien die besonders schweren Fälle.
Einige Menschen hatten sich vollständig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, um allen potenziellen Gefahren aus dem Weg zu gehen.
Belgien kennt, anders als zum Beispiel das Nachbarland Frankreich, keine staatliche Anerkennung für psychische Opfer eines Terror-Anschlags.
Thomas hat seine Schwiegermutter beim Terroranschlag verloren. Seine Frau ist deshalb auch ein Opfer – ohne als solches anerkannt zu werden, wie er heute an der Gendenkfeier am belgischen Fernsehen erzählte.
Vor zwei Tagen haben wir einen Brief unserer Krankenkasse erhalten, die uns auffordert, den Zusammenhang zwischen dem Terroranschlag und dem Trauma meiner Frau zu belegen.
Thomas gegenüber dem belgischen Fernsehen RTBF.be
Ein typisches Problem – immer noch, bestätigt Traum-Spezialist Etienne Vermeiren.
Es gibt Menschen, die Angst haben, den Briefkasten zu leeren, da er voll von weiteren Enttäuschungen sein könnte; dass Versicherung sich nicht zuständig fühlen, Krankenkassen Behandlungen nicht bezahlen, oder Experten Verletzungen nicht anerkennen.
Etienne Vermeiren
Eine amtliche Anerkennung, als Opfer eines Attentes zu gelten, wäre wichtig für Traumatisierte.
Wir wissen, auch aus der Vergangenheit, dass Menschen ein Leben lang traumatisiert bleiben, weil ihre psychische Verletzung nicht anerkannt wird und sie darum nicht jene Behandlung erhalten, die sie benötigten.
Etienne Vermeiren
Die Folgen beobachtet das Team von Etienne Vermeiren regelmässig bei Opfern der Terroranschläge von Brüssel: Zahlreiche Traumatisierten bleiben in einer Spirale von Fragen gefangen, auf die es keine Antworten gibt.
Diese Menschen spielen alles noch einmal durch, immer wieder, wider Willen: Was, wenn ich nicht an diesem Ort gewesen wäre, hätte ich mich anderes verhalten können. Das treibt manche Menschen in den Wahnsinn. Zumal alles um sie herum, sie ständig an das Attentat erinnert.
Etienne Vermeiren
Diese Menschen ziehen sich aus dem öffentlichen Leben zurück, um nicht länger leiden zu müssen, um alles zu verdrängen.
Niemand kennt die genaue Zahl von Traumatisierten.
Etienne Vermeiren wird nicht überrascht sein, wenn sich auch nach der heutigen Gedenkfeier, wieder neue Opfer der Terroranschläge bei seinem Team von Traumexpertinnen melden werden.